Am 27. Mai 2018 ist um 13:00 mein Vater gestorben.
Glücklicherweise – dazu gibt es noch eine ganz große, unfassbare Geschichte, die später erzählt werden soll – hat er uns vorher gesagt, wie er sich seine Beerdigung vorstellt. Dabei hat er uns auch einen Spruch mitgegeben, den er irgendwo haben wollte – auf dem Grabstein oder der Anzeige, das war ihm egal, aber er sollte da sein. Man könnte sagen: Seine offiziellen letzten Worte.
Er hat sich auch gewünscht, dass seine Kinder etwas auf der Beerdigung sagen können, wenn sie wollen. Und auch wenn das vielleicht für Außenstehende pathetisch klingt, war mir sofort klar: Ich will. Fast schon: Ich muss. Ich will diesen Moment nicht ungesagt verstreichen lassen und ihn und diesen Menschen teilen.
Am 05. Juni um 13:00 Uhr ist mein Vater beerdigt worden. Und das waren meine Worte:
Ich bin Marcus. Ich bin heute hier zusammen mit meinen Geschwistern, weil wir unseren Vater beerdigen.
Aber: Warum stehe ich jetzt hier vorne? Mein Vater hat mir doch immer davon abgeraten, Pfarrer zu werden? Warum stehe und rede ich jetzt trotzdem in einer Kirche?
Ich stehe hier, weil er uns seine letzten Worten mitgegeben hat. Und in mir haben diese Worte das unstillbare Verlangen ausgelöst euch heute ein Stück Hanns-Christoph zu zeigen, von dem ich möchte, dass ihr es mitnehmt.
Ich erwarte euch.
Diese Worte bringen ein klares Bild mit: Hanns-Christoph, an einem Tisch. Der Tisch ist groß, aber bis auf ein paar Gläser und Getränke leer, bereit und bereitet viele Menschen aufzunehmen.
Hinter ihm eine große Standuhr, die ihn Zeit seines Lebens begleitet und den Tag mit harmonischen Halbstundenschlägen unterteilt hat. Und ein Fenster hinter dem ein Fluß entlangfließt. Und auch wenn dieses Bild einigen von euch als ein sehr konkreter, bestimmter Ort scheint, gab es dieses Bild immer wieder: Der Tisch, die Uhr, der Fluß hinterm Haus.
In diesem Bild ist sein Ich groß und präsent. Der Raum ist leer, aber gefüllt mit dieser Hanns-Christoph-Anwesenheit. Raumgreifend, platzeinnehmend mit so einer Art einladender – aber auch fast schon provozierender – Gastfreundschaft: „Kommt herein, setzt euch hin, seid bei mir.“
Auf den ersten Blick wirkt das gemütlich, wie der kurze Moment bevor die Feier, das ausgelassene Beisammensein losgeht. Aber: Es ist eben davor, Hanns-Christoph ist alleine in diesem Bild. Und – das ist mir sehr spät klar geworden – hofft in dieser Einsamkeit darauf, dass auch wirklich jemand kommt und deswegen sagt er:
Ich erwarte euch.
Diese Worte wiegen schwer. Diese Worte sind Verpflichtung und Versprechen in einem. Hanns-Christoph erwartet…
…Liebe. Aufrichtigkeit. Familie. Aufeinander stolz sein. Anerkennung.
Wenn einem das so auf den Tisch gelegt wird, kann es schnell überfordern, so wie er es mir auf den Tisch gelegt hat, und es hat mich oft überfordert. Diese Erwartung wurde zur Forderung, zur Aufforderung, zur Anforderung, zur Prüfung.
Bis ich verstanden habe: Er erwartet das nicht nur von mir, von uns, von euch. Er erwartet es vor allem auch von sich. Wer seine Geschichte kennt, wer Geschichten von ihm kennt, muss jetzt vielleicht lächeln oder sogar mit den Augen rollen, wenn ich sage:
Er hat immer viel von sich erwartet. Ein guter Vater zu sein. Ein guter Partner. Ein guter Freund. Und er hofft darauf, dass er euch in dieser Erwartung gerecht geworden ist und deswegen sagt er:
Ich erwarte euch.
Ehrlich gesagt, ist es dieses „euch“, das mich wahnsinnig macht. Das klingt erstmal so schön, so trostspendend, so kurz vom dem Tod gesagtes: „Ich bin schon da, kommt nach.“
Aber diese Worte trennen eben auch zwischen „ich“ und „euch“.
Ihr seid hier. Wir sind hier. Und Hanns-Christoph ist es nicht mehr…
…und das ist ganz schön bitter.
Aber – und ich bin sehr dankbar, dass ich das in den letzten Wochen erleben durfte – viel von dem, was ich jetzt gerade gesagt habe, ist meine Interpretation, die wahrscheinlich mehr über mich sagt, als über ihn, aber auch deswegen stehe ich jetzt hier, weil diese Worte eben das Letzte sind, was er mir und uns und euch hinterlassen hat.
Für mich klingt aus diesen Worten die große Suche nach Geborgenheit und „zu Hause sein“ und einen Ort haben, an dem man jemand anderen erwarten kann – und ich glaube Hanns-Christoph hat diesen Ort gefunden.
Und das meine ich – erst einmal – gar nicht metaphysisch, sondern ganz, ganz konkret. Hanns-Christoph ist in den letzten Jahren angekommen. Nicht da, wo ich ihn mir gewünscht habe, wahrscheinlich nicht einmal da, wo er es sich früher hätte träumen lassen können, aber da, wo er nicht mehr wegwollte. Und da, wo wir Kinder bis zum Schluß bei ihm sein konnten.
Aber jetzt heisst erst einmal Abschied nehmen und wenn ich mir nach all den Strapazen noch eins von euch wünschen darf, dann geht hin,
nehmt Hanns-Christoph mit und
weint
und
lebt
und
liebt
und seid sicher:
Er erwartet uns.